Versöhnlich

Gerade ging ich zur 300m entfernten Wertstoffinsel am Supermarkt. Ich dachte, das geht leicht zu Fuß, ist ja nicht weit. Ich nahm den Korb mit dem Altglas und dem Leergut in die eine Hand und klemmte mir die große Schachtel mit dem Altpapier unter den anderen Arm. Kurze Gewichtprobe in der Wohnung: machbar. So stapfte ich los. Nach 150 Metern musste ich feststellen, dass das zunächst leicht eingeschätzte Gewicht gar nicht so leicht war. Und ich dachte: „Interessant. Was zunächst ganz leicht wirkt, wird auf die Dauer und in Summe schwer – wie im echten Leben. Steter Tropfen höhlt den Stein.“

Ich habe eine Bekannte, die wirkte vor einem Jahr noch super easy, sie war aufgeschlossen, ging auf die Menschen zu und war immer gut gelaunt. Noch vor kurzem dachte ich, dass es ein Wahnsinn ist, wie sie sich innerhalb eines Jahres zu einer nachdenklichen, gar nicht mehr allzu fröhlichen Person entwickelt hat. Sie hat Ärger in der Arbeit und das macht sich deutlich bemerkbar.

Ich blieb kurz stehen, tauschte den Altpapierkarton mit dem Altglaskorb und ging weiter. Es muss doch eine Lösung dafür geben? Und dann kam es mir: Nein, es gibt nicht immer eine Lösung. Nicht kurzfristig, nicht für den Moment. Manches wird auf Dauer einfach schwer und etwas, das zu Beginn ganz leicht wirkte, wird auf Dauer untragbar. Manches ist irgendwann einfach nicht mehr machbar, nicht mehr im Rahmen des Möglichen, sprengt die persönlichen Grenzen – körperlich wie seelisch.

In Zeiten, in denen meterweise Bücher versprechen, dass man – Taschakka! – alles schaffen kann, fällt es schwer, dies zu glauben. Zumindest geht es mir so. In deinem Job läuft es nicht so gut? Erfinde dich neu! Du bist in deiner Ehe unglücklich? Egal, liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest. Verstehe deine Lebensmuster und verändere dein Leben! Heile alte Wunden und schöpfe neue Kraft! Verstehe deine Gefühle und bewältige Probleme! Schließe Freundschaft mit dir selbst! Du hast Allergien, Rheuma oder sonstige Beschwerden? Höre auf deinen Körper, es ist höchste Zeit, etwas zu ändern!

Aus allen Ecken schallt es: Finde zu dir und du bist glücklich und gesund. Und vor allem: Du bist verantwortlich für dich und dein Leben. Es gibt keine Opfer, du bist der Schöpfer von allem, was dir widerfährt.

Ich stimme dem zu. Grundsätzlich. Allerdings hat mich das ganz furchtbar unter Leistungsdruck gesetzt. In Auszügen schrieb ich schon einmal darüber.

Als ich 19 war, litt ich bereits einige Zeit unter einer Essstörung. Ich bestellte mir übers Internet mein erstes Selbsthilfebuch. Ihr könnt euch meine Enttäuschung kaum vorstellen, als ich es fertig gelesen hatte und nicht geheilt war. Ernsthaft.

Am Altpapiercontainer angekommen, dachte ich mir, dass es okay ist zu scheitern. Scheitern gehört zum Leben dazu. Manchmal sind die Päckchen, die man sich selbst aufgeladen hat, einfach zu schwer. Und manchmal wurde einem auch etwas aufgeladen. Es ist unmöglich, all das zu tragen. Und es ist unmöglich, alles zu können und like Dalai Lama sich selbst und die ganze Welt zu lieben und unfehlbar zu sein. Ich meine, wie alt ist der Dalai Lama? 120? Ich bin 37. Ich habe schon viel geschafft, bin schon oft gefallen und immer wieder aufgestanden. Es gibt Dinge, die kann ich gut und es gibt Dinge, die habe ich einfach noch nicht so drauf. Wir sind nur Menschen. Ich bin nur ein Mensch.

Was ich sagen will: Manches braucht einfach Zeit. Das habe ich heute verstanden. Es geht nicht alles auf einmal. Es geht. Ganz bestimmt. Aber nicht sofort.

Ich schmiss meinen Ballast in die Container und ging etwas versöhnlicher mit mir wieder nach Hause.

Ich werde wieder dorthin gehen. Aber vielleicht packe ich es beim nächsten Mal anders an.

Dieser Beitrag wurde unter Werden und Sein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

17 Antworten zu Versöhnlich

  1. mamaanotes schreibt:

    Ist das dieses selber verzeihen können, das so angepriesen wird? Ich frage das ganz ohne Ironie und glaube, ja. Gut gemacht.

  2. kiko2014 schreibt:

    Genau!!!
    Genau das ist es was ich mit der Zeit gelernt habe!
    Man muss den Ballast abwerfen … Schritt für Schritt … und nicht verzweifelt aufgeben wenn eine kleine Änderung nicht SOFORT zum Erfolg führt … denn man bekommt auch immer NEUEN BALLAST … und der will auch abgearbeitet werden. Und es gibt auch immer Ballast den man vielleicht nie los wird. Und wenn man DAS weiß und damit auch rechnet, erst dann kann man entspannt und glücklich leben, denn DAS steht auch in keinem Ratgeber …. das es nie aufhört daran „arbeiten“ zu müssen!

    Wie immer super geschrieben und auf den Punkt gebracht! DANKE!

  3. Mama Schulz schreibt:

    Vielen lieben Dank für Deine Zeilen. Du sprichst mir aus dem Herzen.
    Leider ist es auch manchmal so, dass es gar nicht mehr geht. Und auch dann hilft es, es zu akzeptieren. Und sich nicht ständig zu grämen, dass es doch besser anders sein sollte. Ich übe mich auch noch darin…

  4. fritzvonsteiner schreibt:

    Ich freue mich, dass du auf so symbolische Weise wieder eine Erkenntnis gefunden hast: `Dass alle Last auf einmal einfach zu viel sein kann!´
    Aber:
    Wir müssen nicht immer die gesamte Last auf einmal nehmen… Vielleicht nimmst du das nächste mal nur das Glas oder nur Altpapier mit…! Genauso ist es auch im Leben: Man macht nicht alles auf einmal – sondern in einzelnen Abschnitten. Große und lange Wege werden in kleinere Abschnitte unterteilt und große Lasten werden auf mehrere Wege verteilt!

    Friedrich 🙂

  5. Ich finde den Vergleich mit dem Altpapier bzw. Glas so schön passend. Und dennoch fällt es mir schwer zu erkennen, welchen Ballast ich denn loswerden kann. Was ist wichtiger, Altglas oder Papier, um mal in deinem Bild zu bleiben.
    Ich befürchte, darüber werde ich noch lange grübeln.

    Liebe Grüße,

    Andrea

  6. mariamania1905 schreibt:

    Ich merke schon wie es in mir rebelliert: „Aber ich will alles jetzt sofort auf der Stelle, ne wie Zeit? Ich hab keine Zeit muss alles sofort gehen ich muss schnell noch und dann hier und…“ etc. Diese Gedanken machen Druck, ich versuche mich in Gelassenheit zu üben.
    Finde es interessant wie du von einer Wertstoffinsel zu dem Punkt kommst, dass eben nicht alles auf einmal geht. 🙂
    Liebe Grüße

  7. Kluger Artikel. Hätte mich gefreut, wenn du seinem Thema noch länger auf der Spur geblieben wärst. Fast zu kurz.

  8. Pingback: Ich wollte euch etwas zu lesen geben. Was dann geschah, holte mich aus dem Urlaub zurück! « Chaos² – Familienwahnsinn im Doppelpack

  9. B. schreibt:

    Danke für deinen Blog, es sind zwar nur wenig Einträge dafür ziemlich Gute! Weiter so!

Hinterlasse eine Antwort zu kiko2014 Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..