Ich passe in keine Schublade

In meinem Arbeitsumfeld hatte niemand damit gerechnet, dass ich drei Jahre Elternzeit nehmen würde. Das passte nicht in das Bild, das man von mir hatte. Eher dachte man, dass ich schnell wieder da sein würde, weil mir die Arbeit sehr wichtig sei. Ich weiß das, weil es mir gesagt wurde.

Aus einer Tochter wurden zwei Töchter und aus drei Jahren wurden viereinhalb Jahre. Ich zog das volle Elternprogramm durch: PEKiP, Elternschwimmen und nachmittägliche Treffen mit Mütterfreundinnen. Ich legte ein halbes Medizinstudium ab, um eine fundierte Impfentscheidung zu treffen, ich ging in Spielgruppen und las Jesper Juul und wie sie nicht alle heißen. Mit der Zeit sammelte sich eine beachtliche Globuli-Apotheke an und eine Büchersammlung, die so manch örtlicher Bücherei Konkurrenz machen würde.

Ich gründete mit anderen Müttern die Initiative Familie 2.0 und wir stellten mit einem offenen Brief Forderungen an die ehemalige Familienministerin. Ich fing wieder an zu arbeiten, 20 Stunden und das empfand man als viel, zumal ich jeden Tag in die Arbeit fuhr. Dass ich nun in meinem Blog hin und wieder kritische Blogposts darüber schreibe, wie eine Mutter in der Gesellschaft wahrgenommen wird, empfindet man als widersprüchlich. Die Übermutter Tina, die macht da jetzt auf Feminismus.

Zwischen großer Verwunderung über meine umfängliche Elternzeit und meinem kritischen Blick auf die Gesellschaft liegen sechs Jahre. Bin ich wankelmütig, ein Fähnchen im Wind, leicht beeinflussbar? Lasse ich mich von meiner Umgebung assimilieren und bin ich in Wahrheit nur ein Chamäleon, immer auf der Suche nach möglichst wenig Beachtung und Auffälligkeit?

Ich lehne den Begriff Feministin für mich ab. Weil ich in keine Schublade gesteckt werden möchte, das jedoch aber zwangsläufig passiert. Scheinbar schließt Feministin auch „gute Mutter“ aus, zumindest habe ich den Eindruck, dass dies eine zwingende Schlussfolgerung ist.

Man kann mich sicher als extrovertiert bezeichnen, ich stehe gern auf Bühnen und mag es, Vorträge zu halten. Aber auf Familienfeiern bleib ich gern am Rand und schätze die Einzelgespräche. In großen Gruppen fühle ich mich schnell überfordert.

Ich habe jahrelang keinen Sport gemacht, dabei liebe ich es, mich zu spüren, zu messen, zu entwickeln. Viele aus meinem Umfeld kennen mich nicht sportlich, dabei bin ich ehemalige Leistungsschwimmerin und bin über zehn Jahre viele Kilometer geschwommen.

Ich schiebe viele Dinge auf und mache sie auf den letzten Drücker. Wenn ich eine Verabredung habe, bin ich sehr pünktlich und zuverlässig.

Mein Schreibtisch in der Arbeit ist aufgeräumt, ich kann nicht arbeiten, wenn dort Durcheinander herrscht. Privat ist die Toleranz wesentlich höher und die ein oder andere Sammel-Ecke gibt es immer.

Ich höre gerne Hardrock. Und Klassik.

Ich kann kochen, aber mag nicht einkaufen.

Ich stehe gerne früh auf. Ich liebe es, die Welt dabei zu beobachten, wie sie langsam erwacht, es ist eine ganz bestimmte Stimmung, die mich mit unglaublichem Frieden erfüllt. Ich bleibe sehr gerne bis tief in die Nacht wach und beobachte die Welt, wie sie langsam einschläft und sich die Nacht über die Hektik des Tages legt.

Ich bin gelernte Steuerfachangestellte und hasse es, meine eigene Steuererklärung zu machen.

Ich mag kein Schickimicki, außer auf Reisen, da finde ich es toll.

In meinem Schrank gibt es viele Jeanshosen. Aber ich brezel mich wahnsinnig gerne auf, sei es im Business-Bereich oder für eine Hochzeit.

Als Kind begegnete mir der Vorwurf, ich sei „himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt“. Das trifft heute noch auf mich zu.

Was ich sagen will: Ich passe in keine Schublade und ich denke, niemand tut das. Es ist einfach ungerecht, jemandem vorzuwerfen, ganz anders zu sein, als der eigene Eindruck, den man von ihm hat.

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18 Antworten zu Ich passe in keine Schublade

  1. Nieselpriem schreibt:

    Tina, ich mag dich! ❤

  2. Sylvia Haas schreibt:

    Darf ich mir einen Satz leihen? „Es ist einfach ungerecht, jemandem vorzuwerfen, dass er ganz anders ist, als der eigene Eindruck, den man von ihm hat.“ Der gefällt mir so sehr!!! – Ansonsten fällt mir zu dem tollen Artikel nur ein: Die Welt ist voller Farben, die je nach Lichteinfall ganz andere Schattierungen aufweisen. Warum sollten wir nich genauso sein dürfen?!!!

  3. Frl. Null.Zwo schreibt:

    Sehr vieles davon kommt mir sehr bekannt vor.
    Ich selbst nenne mich dann maßlos – nicht richtig Maß haltend

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Warum maßlos? Das verstehe ich nicht.

      • Frl. Null.Zwo schreibt:

        Ich muss alles ganz genau durchplanen, nur um dann total verpeilt am falschen Bahnsteig zu stehen und mich zu ärgern, dass der Zug scheinbar Verspätung hat. Ich habe mich 5 Tage zuhause eingeigelt um extremst für ein paar Prüfungen zu lernen (die ich super ablegte) – konnte aber genauso gut 5 Tage lang total durchfeiern und versumpfen.
        Mal vom einen Extrem ins Gegenteil, da fühl(t)e ich mich maßlos

  4. Katharina schreibt:

    Wunderbarer Schlusssatz, toller Artikel!

  5. Simone schreibt:

    Der Sachse an sich würde sagen: Nu Genau! 🙂

  6. kiddothekid schreibt:

    Wunderschöne Gedanken. Ich erkenne mich darin ganz oft wieder. Und als Kind wurde mir auch vorgeworfen, ich sei himmelhoch jauchzend etc etc – ein seltsamer Vorwurf, oder? Warum wirft man das einem Kind, einem Menschen überhaupt vor? Reicht nicht eine stille Feststellung? Denn ändern kann man an dieser Veranlagung doch ohnehin nichts.

    Danke für den tollen Text ❤

  7. Mamamotzt schreibt:

    Wunderbar!
    Warum auch muss denn immer alles schubladisiert werden?!
    Ich wünsche mir mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen, statt eines scharfen „aha!“ nach dem ersten Blick.
    Merci!

  8. Kerstin schreibt:

    Das mit den Schubladen ist ja so eine Sache. Ich glaube, man steckt andere gern in Schubladen, um sie dann berechenbar zu machen. Da spielt dann u.U. das Bedürfnis nach klaren, geordneten Verhältnissen mit rein. Manchmal steckt man sich auch gern selbst in welche, um sich vielleicht anzupassen. Ich denke, jeder Mensch ist in verschiedenen Schubladen zuhause, wie in einem Schmuckkästchen mit unzähligen Fächern. Und hin und wieder kommen neue hinzu, wie bei einem Bausatz. Liebe Grüße, Kerstin

  9. LOB schreibt:

    schöne Vorstellung …. gelungenes Selbstbild, die Frage die vielleicht bleibt: wie sehen dich deine Töchter – es wird sein, wie das Salz in der Suppe – noch mutiger, wenn der abgewiesene Liebhaber zu Wort käme, unnötig aber, die Exen reden zu lassen – alles erfordert einen Wandelmut, das auszuhalten, sich so auf die Bühne zu stellen, so viel preis zu geben – interessant wird es, wenn du wieder ein Glas verschüttest, auf dem Schreibtisch ohne Gulli, wenn du so schnell Auto fährst, die Tankanzeige, in weniger als 5 Min von 5 km auf Null steht… wenn du erzählst, wie du dich selbst gerettet hast, wenn du 6 km in 45 Min läufst …. irgendwie ist das Netz eine Art Postkutsche, man kann überall ein- und aussteigen, trifft die unterschiedlichsten Leute: sagt Hallo und fragt was machst du? Zufallsbekanntschaften, die dir dann auf die eine oder andere Weise in die Flanken tritt und du wechselweise verzückt aufhorchst oder verschreckt scheust – weil du nicht in eine Schublade gesteckt werden willst, weil du nach Orientierung suchst, weil wir nicht an einem seidenen Faden hängen wollen, obwohl wir es doch daran hängen … schön, dass es dich gejuckt hat, diesen Text zu posten…

  10. clauchichi schreibt:

    Huch, da erkenne ich mich streckenweise sehr gut drin wieder (das früh Aufstehen und lange wachbleiben ist mir grad am Wochenende wieder sehr aufgefallen). Irgendwie sind wir doch alle seltsam unterschiedlich gleich (gibt das einen Sinn?).

    Liebste Grüße!
    Claudia

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Nun, trotz Drang nach Individualität ist es doch auch tröstlich zu wissen, dass ein paar Dinge gleich sind. Ich glaube, nur so lässt sich das Anderssein aushalten.
      Viele Grüße
      Tina

  11. Hallo Tina,

    sehr interessant, dein Artikel – ich finde mich sehr oft wieder…

    Wegen der Schubladen muss ich noch etwas schreiben. Schubladen haben nämlich auch manchmal etwas Positives – es kommt darauf an, von wem man in eine Schublade gesteckt wird:
    Steckt man sich selbst! in eine Schublade, so macht man das aktiv, von innen heraus und macht das, um sich selbst zu entwickeln, da eine Schublade auch Tipps für einen parat haben kann. Wird man jedoch von anderen in eine Schublade gesteckt, so ist das passiv und ich muss eine Bewertung über mich ergehen lassen – und das ist genau das, was wir nicht wollen. Hat man zu allem Elend noch ein geringes Selbstwertgefühl, so nimmt man womöglich diese Platzierung in der Schublade auch noch an…

    Deshalb gibt es für mich 2 Seiten des Schubladendenkens.

    A propos Chamäleon, welches du oben erwähnt hast:

    Das Chamäleon in der Schublade…


    Ich habe zu diesem Thema auch einen Beitrag geschrieben, ich hoffe, er gefällt 🙂

    Dir wünsche ich alles Liebe und Gute, weiter so mit deinem Blog – deine Gedanken sind ganz wunderbar, denn sie sind authentisch und klar und motivieren andere dazu, ihren eigenen Weg zu gehen.

    Liebe Grüße,
    Julia

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