Bauchgefühl

Vor 12 Jahren saß ich im Steuerbüro meines ehemaligen Chefs, blickte auf das Stellenangebot meines jetzigen Arbeitgebers und wusste: Da werde ich arbeiten. Das klingt total blöd, aber ich war mir sicher, da war kein Zweifel. Null. Innerhalb von wenigen Tagen stellte ich meine Bewerbung auf die Beine. Vor 12 Jahren war es revolutionär, wenn man eine! PDF-Bewerbung einreichte. Also nicht viele Einzeldateien, sondern eine gebündelte Bewerbung, die sowohl Anschreiben, Lebenslauf wie auch alle Zeugnisse und Beurteilungen enthielt. Meine E-Mail ging um 21 Uhr raus, bereits nach 12 Stunden hatte ich die Antwort, ich solle mich melden. BÄMM! Keine vier Monate später ließ ich mein ganzes kleines Leben in NRW hinter mir und zog 730 Kilometer nach Bayern. Ich habe die Entscheidung nie bereut, mein Gefühl beim Blick auf die Stellenanzeige war richtig.

Vor 12 Jahren wollte ich keine Kinder. Wie man hier immer wieder lesen kann, war meine eigene Kindheit eine ziemliche Herausforderung und ich wollte unter gar keinen Umständen selber welche in diese Welt setzen. Überraschenderweise kam aber der Tag, an dem ich spürte, dass ich mir von ganzem Herzen Kinder wünsche. Beide Kinder sind mit einem riesigen Willkommen hier auf dieser Welt gelandet, das war mir sehr sehr wichtig, nachdem ich selbst ja nur ein Unfall war und man mir das auch unbedingt mitteilen musste.

Das sind nur zwei Beispiele dafür, wo ich ein eindeutiges Bauchgefühl zu etwas hatte und  diesem folgte, ohne das mit meinem Verstand nächtelang durchzudiskutieren. Ich stelle fest, dass mir diese Leichtigkeit verloren geht. Irgendwie geht das nicht mehr. Liegt es daran, dass ich mehr Verantwortung habe, dass ich nicht mehr nur für mich alleine entscheide? Wobei, manche Entscheidungen betreffen tatsächlich nur mich allein. Vielleicht ist es diese maximale Ablenkung, der wir alle unterliegen? Überall Input, überall Anspruch – höher, schneller, besser, der Druck ist immens.

Ich habe vor sechs Monaten die Entscheidung getroffen, nochmal die Schulbank zu drücken und spürte während der Ausübung einen wahnsinnigen Leidensdruck. Ich bin so erzogen worden, dass man durchzieht, was man anfängt, aber das milderte meinen Zustand auch nicht wirklich. Als ich eine Kollegin bat, mich mit ihren NLP-Kenntnissen zu coachen, fragte sie mich, was mir mein Bauch sagt und ich antworte spontan: Nee. Damit war die Entscheidung klar, ich musste das beenden, es war nichts für mich. Einigermaßen aufgeräumt verließ ich das Gespräch. Doch dann ging es los: Man führt zu Ende, was man anfängt. Was sollen meine Arbeitskollegen/meine Familie/meine Freunde von mir denken? Das ganze Geld, was ich schon investiert habe. Aber hey, vor Jahren habe ich etwas durchgezogen, was mich überhaupt nicht weitergebracht hat. Und wenn es doch sinnvoll wäre, dieses Studium? Was, wenn der Abbruch ein riesengroßer Fehler ist? Darf ich das? Wer erlaubt hier eigentlich wem was? Und so weiter… Und obwohl ich die Entscheidung getroffen habe, fällt sie mir immer noch schwer. Ich habe das Gefühl, gescheitert zu sein. Und das Thema wiederholt sich, denn bezüglich meiner nicht mehr vorhandenen Ehe habe ich dieses unverzeihliche Gefühl auch. Und mir scheint, das bedroht meine Glaubwürdigkeit mir selbst gegenüber. Ich traue mir nicht mehr.

Dabei ist es möglicherweise völlig natürlich, dass man innerhalb von 38 Jahren einmal irrt. Wie sollte das auch sonst funktionieren? In Deutschland haben wir keine Kultur des Scheiterns. Was in Amerika zu einer guten Erfahrung gehört, ist hier immer noch verpönt. In Deutschland scheitert ein erfolgreicher Mensch nicht. Schublade auf, Loser rein, Schublade zu.

Ich will dieses Bauchgefühl wiederhaben. Ich will nicht mehr grübeln, nicht mehr zweifeln, ich will experimentieren, dieses Leben in seiner gesamten Bandbreite genießen und manchmal einfach locker mit den Schultern zucken und sagen: Mist, das war jetzt wohl nix.

Wenn da nur nicht dieser 38-jährige Verstand mit all seinen Erfahrungen wäre, der so furchtbar laut ist.

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6 Antworten zu Bauchgefühl

  1. rona schreibt:

    Danke, Tina, für’s Aufschreiben. Wie gut ich das kenne. Vor einiger Zeit habe ich ein Lied zum Scheitern gefunden, das mich sehr berührt hat: https://youtu.be/89G2IN7GOYQ
    Scheitern ist so wichtig für die Entwicklung. Aber ja, uns fehlt eine Kultur des Scheiterns. Darüber würde ich auch gern einmal schreiben. Deine Texte sind immer wieder eine tolle Inspiration!

  2. Pingback: Scheitern - Phoenix-Frauen

  3. Martina schreibt:

    Zum Thema scheitern kann ich eines sagen !
    Ich habe mich von ca. 2,5 Jahren von meinem Mann getrennt. Die Kinder leben bei ihm. Ich bin gegangen, weil ich mich nicht verstanden, respektiert und geschätzt gefühlt habe. Er war aufmerksam usw. Jetzt lebe ich mit einem Mann zusammen, der mir sagt, mich zu lieben wie er noch nie einen Menschen geliebt zu haben. Aber es ist nicht dass was ich mir vorgestellt habe. Doch man zieht durch was man beginnt und so ist es.
    Obwohl ich unglücklich bin, ich würde niemals zurück gehen. ich ziehe durch, was ich begonnen habe.
    Das habe ich in meiner Kindheit gelernt. Meinen Kindern vermittle ich etwas anderes. Nämlich dass es nicht schlimm ist, seine Meinung und Entscheidung zu ändern. Und das ist gut so!!!

  4. Alice schreibt:

    Könnte es auch sein, dass es nur selten den EINEN richtigen Weg gibt? Dass es weniger die Suche nach dem heiligen Gral ist, als dass jede Möglichkeit seine Für und Wider hat? Die man abwägt, um darauf basierend eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht könnte man sich dann auch von dem „was-wäre-wenn“ trennen, und die eigene Entscheidung akzeptieren, in dem Wissen, dass es auch auf dem anderen Weg Probleme/Schwierigkeiten gegeben hätte, nur andere.
    Und doch ist das nur eine Seite der Medaille, denn, wie du es auch beschreibst, geht es nicht nur um uns, wir sind beeinflusst durch die Vorstellungen und Erwartungen unserer Umwelt, und uns selber oft so fremd, dass uns sogar das Wissen um unsere eigenen Wünsche/Bedürfnisse fehlt. Vielleicht hat es etwas mit antrainiertem Gehorsam zu tun, das fördert ja nicht unbedingt die Fähigkeit, selbständig fundierte Entscheidungen zu treffen?
    Und um was geht es eigentlich? Darum, dass du DICH beruflich verwirklichst? Oder um das Ansehen, das „okay“ vom Umfeld? Meiner Einschätzung nach ist mangelnde Selbstdisziplin wohl eher nicht dein Thema. Es ist auch nicht unbedingt der leichtere Weg, etwas abzubrechen, nicht den Erwartungen zu entsprechen, einen Irrtum einzuräumen, wenn man so will. Das merkt man ja schnell an dem Loser-Stempel auf der Stirn.
    Wir sind so unterschiedlich. Wer weiß, welcher dein Weg ist? Nun ist er zumindest frei, und läuft nicht in eine falsche Richtung.
    Alles Liebe, Alice

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