Der vierte Mann

Anmerkung: Der folgende Text kann gegebenenfalls triggern. #häuslicheGewalt

Mann Nr. 4 lernte sie im Entzug kennen. Zwischen Bastel- und Selbsthilfegruppe muss es zwischen Ihnen gefunkt haben. Vielleicht war es auch nur die Perspektivlosigkeit, die die beiden miteinander verband. Eine, die entsteht, wenn man dem Alkohol vollkommen verfallen ist und daraus resultierend Fehler macht. Fehler, die man nicht wieder gut machen kann. Fehler, bei denen Menschen und Beziehungen zu Schaden gekommen sind. Kleine, schutzbedürftige Menschen wie die eigenen Kinder. Vielleicht war es aber auch tatsächlich der Wille, etwas besser machen zu wollen als das, was beide in der Vergangenheit geleistet hatten. Eine Vergangenheit, die sich größtenteils ihrer Erinnerung entzieht, weil diese zu weiten Teilen vernebelt stattgefunden hatte. Und irgendwie auch ohne sie.

Ach, die Vergangenheit. Wie lange trank sie bereits? Seit sie 20 war? Wer weiß das schon. Ihre drei Kinder werden später – viel später – darüber reden, was jeder von ihnen so erlebt hat, als Sohn, als Tochter einer alkoholkranken Mutter. Gruselige Geschichten und Abgründe tun sich da auf. Erinnerungsfetzen, die vermutlich in ihrer Detailtiefe und -breite gnädig sind und dennoch unvorstellbar. Weiß sie noch, dass sie ihre zwei kleinen Kinder sich selbst überlassen hatte, während sie sich dem Alkohol überließ? Erinnert sie sich noch daran, dass ihr erster Mann von der Dienstreise kam und seine beiden kleinen Kinder völligst vernachlässigt vorfand? Wund war die Kleine und dehydriert. Gegessen hatten die beiden vermutlich auch schon länger nichts mehr. Es gibt da diese Szene, an die sich der große Bruder später erinnern wird. Eine Szene, in der er vor dem Bettchen seiner kleinen Schwester steht und ihr durch die Gitter versucht, Wasser zu reichen. Der große Bruder war selbst noch ein Kleinkind. All das ist schon lange her zum Zeitpunkt des Entzugs. Es ist nicht der erste, nein, sicher nicht. Aber diesen macht sie aufgrund der Auflage des Jugendamts. Des Jugendamtes, das sich um Kind 3 kümmert. Jenes, welches sie nie hat haben wollen und das ein Unfall gewesen war und das sie dennoch glaubte, zu lieben. Die zwei Großen hatte sie längst verloren. An Heim und Pflegefamilie. Aber vor allem psychisch. Aber Kind 3 – eine Tochter – da steckte Hoffnung drin. Und so offenbarte sie der sechsjährigen Tochter, dass sie einen Mann kennengelernt und nach dem Entzug mit ihm zusammen leben würde. Und sie versprach ihrer Tochter, nie wieder zu trinken. Tochter 3 war sehr loyal. Sie glaubte ihr und weinte vor Freude am Telefon. Sie wollte ihr glauben, sie wollte es so sehr. Und sie verstand nicht, warum die großen und schon viel älteren Geschwister so wahnsinnig zornig auf ihre Mutter waren.

An einem Besuchswochenende – heutzutage ist es fast unvorstellbar, das dies überhaupt noch möglich war, ohne Aufsicht, ohne Kontrolle, eine ganzes Wochenende, man stelle sich das einmal vor – schlief Tochter 3 im großen Ehebett. Sie hatte Fieber, zumindest ist es das, woran sie sich erinnert, das es ihr erzählt wurde. Als sie aufwachte, war es gefühlt mitten in der Nacht. Sie war allein im Bett und in der Wohnung war Lärm. Kein Partylärm. Es war ein aggressiver Lärm, laut und krachend. Sie hatte Angst. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt weit auf und sie sah, dass sich ihre Mutter mit Mann Nr. 4 stritt. Genau genommen sah sie, wie er sie gegen die Wand warf und schlug. Leise schlich sie wieder zurück ins Bett und schlief irgendwie ein.

So viel Angst sie in der Nacht hatte, so mutig sprach sie am nächsten Tag die beiden Erwachsenen auf die Situation an, schilderte, was sie gesehen hatte. Beide beteuerten, dass das nicht wahr sei. Sie hätte nur geträumt. Und das könne auch gar nicht sein, schließlich war er die ganze Nacht beim Angeln. Als Beweis zeigten sie ihr einen Eimer voller Fische. Das müsse das Fieber gewesen sein. Bis heute weiß die erwachsene Tochter 3 nicht, was tatsächlich in der Nacht geschehen ist. Viel schlimmer noch, sie traut ihrer eigenen Erinnerung nicht. War es ein böser Traum? Oder hat sie das tatsächlich gesehen? Und wenn es ein böser Traum war, wie kann eine Sechsjährige überhaupt von so etwas träumen? Ist es für eine Sechsjährige nicht eher unvorstellbar? Von all der Vernachlässigung, von all den Lügen, von all dem Elend ist das fast eines der schlimmsten Dinge, die ihr die Mutter angetan hat. Sie hat sie ihrer Wahrnehmung beraubt. Wie sollte sie sich jemals ihrer Erinnerungen sicher sein? Später wird es viel Arbeit erfordern, in diese Unsicherheit wieder Stabilität zu bringen.

So oder so – Mann Nr. 4 war kein guter Mann. Er trank schon sehr bald wieder nach dem Entzug und dessen ist sich die Tochter sicher. Denn als sie mit ihm im Auto saß und er die Flasche Korn aus der Seitentasche zog, hatte sie kein Fieber. Sie fragte, was das sei und er antwortete: „Medizin“. Aber sie wusste, er lügt. Viel zu oft hatte sie sämtliche Flaschen der Mutter verstecken müssen, wenn es klingelte, sie wusste sehr genau, was Alkohol war.

Mann Nr. 4 war ihr unsympatisch, aus vielerlei Gründen. Und dennoch gibt es da diese Situation, in der sie gemeinsam mit ihm in der Badewanne sitzt. Er auf der einen Seite, sie auf der anderen Seite. Über der Badewanne hing ein Boiler, einer, durch den man eine kleine Flamme sehen kann. Das macht ihr Angst. Er streckt die Arme aus, sagt wiederholt: „Komm her.“ Aber sie schüttelt immer wieder den Kopf. Schaut auf die Flamme, schaut zwischen seine Beine, weigert sich.

Als die immer wieder verprügelte Mutter ihrer Tochter am Telefon erzählt, dass sie Mann Nr. 4 heiraten wird, wird ihre kleine Tochter zum ersten Mal zornig. Mit ihren sechs Jahren bricht sie den Kontakt ab, weigert sich, ihre Mutter zu besuchen und obwohl Jugendamt und Pflegemutter versuchen, zu vermitteln, weigert sie sich, der Hochzeit beizuwohnen. Es ist ihre Form des Ausdrucks. Ihre Form zu sagen: „Du machst einen riesen großen Fehler.“ Als sie später ihre eigene Jugendamtsakte liest, ist sie schwer beeindruckt von diesem Kind, das sie selbst gewesen ist. Wie stark sie war. Wahnsinn. Und sie hat recht gehabt, die Ehe hält nicht lang. Es wird der letzte eheliche Versuch bleiben.

TIW_kind


Vor zwei Wochen wurde meine Mutter, zu der ich keinen Kontakt mehr pflege, 71 Jahre alt. Ihr Geburtstag ist fest in meinem Kopf verankert und so denke ich jedes Jahr daran. Über 17 Jahre habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr – aus guten Gründen. Dennoch denke ich häufig an sie, zwangsläufig, weil mir viele Erinerungen immer wieder durch den Kopf gehen. Mittlerweile sind diese nur noch selten schwer, es sind Geschichten, die ich mit großem Erstaunen über dieses Leben und seine Schicksale durchlaufe. Es gibt Hinweise darauf, dass sie mittlerweile in einem Pflegeheim ist, aufgrund ihres Lebenswandels nicht verwunderlich. Ich frage mich, was von ihr übrig ist oder ob der Alkohol ihr jeglichen Verstand geraubt hat. Wie betrachtet sie rückblickend ihr Leben, das was sie getan hat, das was sie unterlassen hat? Was glaubt sie, was ihre Kinder über sie denken? Was würde sie ihren Kindern noch sagen wollen, wenn sie die Chance dazu hätte? Ist das überhaupt ein Thema für sie? Und ich frage mich: Wozu war das alles gut? So ein verschwendetes Leben. Da waren so viele kleine Schräublein, an die man hätte drehen können, um etwas zu ändern.

Ich rechne jeden Tag mit der Nachricht ihres Todes und es tut mir wahnsinnig leid, dass wir nur einen kurzen Weg in diesem Leben gemeinsam gehen konnten. Ich hätte sie so sehr gebraucht. Aber davon abgesehen hatte sie auch ganz großartige Seiten: Sie war sehr intelligent und hatte einen tollen Humor. Sie wusste sich zu inszenieren und hatte dazu noch eine wahnsinnige Ausstrahlung. Ich glaube, wir hätten gemeinsam viel Spaß gehabt.

Sie hat viel Leid in unser Leben gebracht, in das meiner Geschwister und das meinige. Aber irgendwie hat sie es auch geschafft, uns nicht kaputt zu machen. Viele Jahre haben wir uns – in alle Winde zerstreut – aus den Augen verloren und waren für uns unauffindbar. Aber seit sechs Jahren haben wir uns wieder und ich bin so dankbar darum. Wir sind eine tolle Truppe, stark und lustig und wo wir gemeinsam sind, da ist Humor und Ausstrahlung.

Ich bin heute nicht mehr zornig und auch nicht mehr mitlaufend traurig. Ich verstehe nur sehr vieles nicht und würde so gerne. Ich hoffe, dass sie wo immer sie ist und wo immer sie hingehen wird, Frieden finden wird. Denn irgendwann hat das jeder einmal verdient.

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20 Antworten zu Der vierte Mann

  1. ilse schreibt:

    eine triggerwarnung am anfang des textes kann glaub ich nicht schaden!
    hut ab vor so viel stärke. diese ganzen jahre, vor allem aber als sechs jährige!

  2. Andreas Schweizer schreibt:

    Oh Mensch – so ein starker Text, so berührend. Da sitz ich und Tränen kullern. Die zwei ‚Szenen‘ mit meilenweit überfordertem Kleinkind sind zu viel für mich. Was für ein abgrundtiefes Elend für diese Kleinen – deren ganze Zukunftshoffnung brutal erstickt, statt unterstützt und gefördert wird.

    Und doch leuchtet Hoffnung auf. Die tolle, starke, lustige Truppe mit Humor und Ausstrahlung! So stark! Wunderbar!

    Ich wünsche Dir/Euch viele viele gute gemeinsams Stunden und ich wünsche Deinen Kleinen Sicherheit, Geborgenheit, Spass in diesem starken und heimeligen Umfeld. Du beeindruckst mich mit Deiner Kraft und positiven Haltung.

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Lieber Andreas, vielen Dank für deine lieben Worte und deine Rückmeldung zu meiner Geschichte. So wie du den Text verstanden hast, so war er auch gemeint. Er soll nicht nur traurig machen, sondern auch aufzeigen, dass das Leben wertvoll ist. Es sind die Gegensätze, die mich faszinieren. Das eine Leben, verschlungen vom Alkohol und die anderen, die trotz aller Umstände glücklich verlaufen können. Es geht immer weiter. Wenn man will.

  3. So viel innere Stärke, so viel Mut und Zuversicht – und am Ende so viel Vergebung. Das rührt mich zutiefst!

  4. lareine schreibt:

    Wow, meine Güte!

    Ich bin berührt und fühle auch mit: Ich hatte vor einer Weile (weiß nicht, ob Du es gelesen hast) über meinen Kontaktabbruch zu meinen Eltern geschrieben.
    Hier ging es nicht um Alkoholmissbrauch, sondern um Persönlichkeitsstörungen, aus denen seelischer und körperlicher Missbrauch, Gewalt und weiteres resultierten.

    Ich freue mich immer, wenn ich lese, dass es jemand geschafft hat, sein Glück zu bewahren, reflektiert zu sein und vor allem selbstbewusst. Ich bin vermutlich weniger berührt von den biographischen Inhalten, weil auch ich menschliche Abgründe kenne, die wiederum andere Menschen zutiefst entsetzen. Falls ich also etwas „abgebrüht“ klingen sollte, sei nicht böse – es liegt daran, dass ich auch so eine „Kranke-Eltern-Veteranin“ bin …

    Alles Liebe für Dich ❤

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Lareine, ich finde kein bisschen, dass du abgebrüht klingst, ich glaube, ich verstehe sehr gut, was du meinst. Deinen Artikel habe ich nicht gelesen, werde das aber noch nachholen, ich bin sehr gespannt.

      Dir auch alles Liebe.

  5. corinna mueller schreibt:

    Ich bewundere dich fuer deine Staerke und besonders fuer den letzten Absatz. Ich bin dazu bis heute nicht in der Lage. Ich bin sehr beeindruckt und danke dir, dass du so etwas ganz privates an uns weiter gegeben hast. Alles Liebe auch von mir

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Liebe Corinna,
      danke für deine lieben Worte.

      Vor 12 Jahren sagte mal jemand zu mir, ich müsse meiner Mutter vergeben. Und meine Reaktion war: Niemals!

      Ich habe nicht vergessen, was alles war. Und ich werde auch nie wieder Kontakt zu ihr pflegen. Aber ich wünsche ihr auch nichts Schlechtes. Das bringt viel Frieden.

      Dir alles Liebe.

  6. mommyba schreibt:

    wow, der text berührt mich zutiefst,vielleicht auch weil ich viele dieser szenen selbst kenne. ich bewundere, dass sie / du darüber so schreiben können / kannst. ich kann es nicht. meinen größten respekt!

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Hallo Mommyba,
      danke für deinen Kommentar. Darüber reden und schreiben ist meine Form, all das zu verarbeiten und zu sortieren. Ich mache das, seit ich Kind bin. Viele viele Tagebücher habe ich vollgeschrieben. Aber es gibt sicherlich viele Möglichkeiten.
      Viele Grüße
      Tina

  7. Marita schreibt:

    Einfach nur wow!!
    Es ist verdammt schwer Gefühle zu beschreiben, und dann auch noch den Punkt zu treffen. Das ist Dir hier richtig gut gelungen. Du hast den Sinn im Leben erkannt und mit ganz viel Stärke beschlossen, dass es weiter geht. Es ist bewundernswert, dass Du ein schöneres, ein besseres Leben führen möchtest… und dies gewiss auch wirst. Sehr berührend und bewundernswert. Mit Deiner Einstellung kann nur alles gut werden, ich wünsche es Dir (Euch)

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Hallo Marita,
      vielen Dank für dein ausführliches Feedback. Ich freu mich, dass dir die Form des Ausdrucks gefällt, da ich diese bewusst so gewählt habe und das auch ein Experiment war, das ich so noch nie versucht habe.
      Viele Grüße
      Tina

  8. Pingback: lieblingskinder, bilderbücher und grillgemüse ::: 5 freitagslieblinge

  9. Mäusemamma schreibt:

    Wow! Bewundernswert- das war mein erster Gedanke beim Lesen! Hut ab vor Deiner Zuversicht, Positivität und dem Verzeihen- denn ich glaube, wenn man seiner Kindheit beraubt worden ist, ist der weitere Lebensweg nicht immer ein leicht. Und sicherlich verspürt man viel Zorn, Ärger und eine tiefe Enttäuschung den Menschen gegenüber, die dafür verantwortlich waren- vor allem, wenn es die eigenen Eltern sind. Ich finde es wirklich erstaunlich, wie Du trotz allem Deine Mutter wieder in Deinem Leben willkommen hast!!

  10. die Sammlerin schreibt:

    Danke … für Dein Vertrauen uns diese Geschichte zu erzählen.
    Ich selber habe solche Szenen nicht kennenlernen müssen in meiner Kindheit. Darüber bin ich sehr dankbar.
    Dein Text hat mich sehr berührt.
    Vor allem, weil ich meine Mutter nicht wirklich willkommen heiße in meinem Leben.Obwohl sie uns regelmäßig besucht, hadere ich mit mir . Oder ihr.
    Welche Stärke wohnt in Dir !Wow !

  11. Pingback: Umgeschaut: Interessante Blogartikel für Eltern | Essential Unfairness

  12. Jenny schreibt:

    Hallo, ich habe den Artikel mit starken Emotionen meinerseits gelesen, gelinde gesagt, da mir solche Situationen nicht unbekannt sind. Es macht mir Mut, noch viel mehr Mut, das alles schaffen zu können.

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