Nicht mein Spiel

Sie hatten mich: Sie waren zu zweit und ich stand mit dem Rücken zur Wand, im sprichwörtlichsten Sinne: hinter mir die Hauswand, rechts von mir ein verschlossenes Stahltor und links von mir der Aufgang zur Glasveranda. Meine beiden sechs Jahre älteren Pflegebrüder, jeder bewaffnet mit einem 10-Liter-Eimer kaltem Wasser, frisch gezapft aus der Gartenpumpe, wer das kennt, weiß um die Kälte des direkt aus dem Boden stammenden Wassers, standen vor mir und versperrten mir den Weg nach vorne. Ich – bewaffnet mit einem kleinen Sandkasteneimer und der war auch noch leer, war in einer ausweglos scheinenden Situation. Also kauerte ich mich hin, schlug die Hände über den Kopf zusammen und ließ mich mit 20 Liter kaltem Wasser überschütten. Ich erinnere mich gut an die Worte meines Bruders: „Du musst kämpfen, Tina!“

Diese Situation ist 30 Jahre her und noch heute denke ich oft an die kleine, an der Hausmauer zusammengekauerte Tina, die sich überschütten hat lassen und dies im Laufe ihres Lebens immer wieder einmal tat. Diese Situation ist im übertragenen Sinne Symbol dafür, was manchmal zu einer Verhaltensweise von mir wurde: Hinkauern, mit sich machen lassen, es geschehen lassen, nicht kämpfen.

Heute bin ich überzeugt davon, dass es immer eine Lösung gibt und dass Hinkauern keine Option mehr ist. Auch wenn meine Waffe lediglich ein kleiner leerer Sandkasteneimer ist, so kann ich mich heute immerhin noch hinstellen und laut und deutlich sagen: „Stopp! Bis hierhin und nicht weiter.“

Heute weiß ich, dass ich das darf, kann und muss. Gleichzeitig weiß ich außerdem: Ich muss nicht jedes Spiel mitspielen. Es gibt einige Spiele, aus denen ich in der letzten Zeit ausgestiegen bin: Mobbing in der Firma zum Beispiel. Ich kämpfe nicht, um des Kämpfens willlen. Ich kläre für mich, ob dieser Kampf überhaupt machbar ist und wenn ja, zu welchem Preis. Bei Mobbing bin ich davon überzeugt, dass man dieses Spiel nicht gewinnen kann. In meinem Fall habe ich das schon sehr früh erkannt und die Reißleine gezogen. Wenn Besprechungen plötzlich ohne einen stattfinden, man aber laut Position dabei sein sollte, dann ist das kein gutes Zeichen. Werden Absprachen über einen hinweg getroffen, dann auch nicht. Wird man vorgeführt und das offensichtlich geplant, dann ist das ein Verhalten, das ich weder mir noch anderen gegenüber toleriere. Und so verließ ich die Firma nach über 12 Jahren Zugehörigkeit. Ich kündigte, ohne etwas neues zu haben. Ich kauere mich nicht mehr nieder, ich lasse mich nicht mehr überschütten und ich kämpfe kein Spiel, dass ich nicht spielen will. Ich kann jeden nur dazu ermutigen, sich das nicht anzutun. Erlaubt niemandem, euch klein zu machen, erlaubt das aber ganz besonders nicht euch selbst.

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Diese Freiheit, einfach gehen/kündigen zu können, hatte ich, weil ich mir einen permanenten „Notgroschen“ erspart hatte, mit dem ich über sechs Monate überbrücken kann. Ich bin sparsam. Und ich kann noch sparsamer, wenn es sein muss. Ich habe drei Ausbildungen, zwei Zusatzqualifikationen und bilde mich stetig weiter fort, weshalb ich sicher war, früh genug wieder etwas Neues zu finden. Und so war es auch.

Als ich meine Ausbildung zur Steuerfachangestellten gemacht habe, wäre ich über einen solchen Text ziemlich sauer gewesen. „Was bildet die sich ein, so etwas zu schreiben?“, hätte ich gedacht. „Wenn man genügend Geld hat, redet es sich leicht.“ Ich war mit 18 von meiner Pflegefamilie ausgezogen und finanziell komplett auf mich allein gestellt. Ich hatte null Kapital, nur mein Ausbildungsgehalt (800 Mark brutto) und ein klitzekleines bisschen Wohngeld. Und ich war oft in der Situation, in der ich finanziell kaum noch weiter wusste, weil erst der Zehnte war, ich noch 100 Mark hatte und noch essen und vorallem tanken musste. Es gab Zeiten, da hatte ich vier Nebenjobs und ehrlich gesagt, habe ich heute keine Ahnung mehr, wieso das alles irgendwie hingehauen hat.

Warum erzähle ich das? Weil ich Mut machen will. Ich bin davon überzeugt, dass es viel häufiger die Möglichkeit gibt, seine eigene Situation zu verbessern als man allgemein annimmt. Ich weiß, wie es ist, in einer Situation zu stecken, in der man weder ein noch aus weiß.

Und ich meine das nicht nur monetär, ich meine das auch sozial. Als Mutter, die mit ihrem Ex-Mann ein ungewöhnliches Modell lebt, in dem die Kinder beim Vater blieben und ich auszog, weiß ich darum, wie es ist, sozial nicht locker mitzuschwimmen. Obwohl ich meine Kinder zwei bis vier Mal in der Woche sehe, wurde ich lange schief angesehen, denn eine Mutter zieht nicht aus. Ganz besonders in dieser Situation habe ich gelernt, was es heißt, sich abzugrenzen. Es gab Menschen in meinem näheren Umkreis, die das zutiefst verurteilten, ohne ausreichend Wissen darüber zu besitzen, wie es tatsächlich läuft. Am Anfang war ich darüber sehr verletzt, da ich selbst noch so wund in der ganzen Trennungssituation war. Aber heute bin ich sehr stolz auf uns. Wir sind eine getrennte Familie, die insgesamt einen guten Kontakt zueinander hat und in der die Kinder weiterhin Vertrauen und Sicherheit haben. Heute lasse ich mich dafür nicht mehr schief ansehen, nicht mehr aus meinem nahen Umkreis. Das tue ich mir nicht mehr an. Kontakt um den Kontaktes willen? Nein. Auch das ist Freiheit.

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