50 qm

Als mein Ex-Mann und ich uns vor zwei Jahren trennten, ging ich davon aus, dass die Kinder mit mir kommen würden und so suchte ich eine entsprechende Wohnung. Schon da dachte ich an eine Zwei-Zimmer-Wohnung, denn der finanzielle Sprung auf eine Drei-Zimmer-Wohnung wäre schmerzhaft gewesen und ich wollte keine Geisel der Miete sein. Die Kinder hätten ein Kinderzimmer bekommen und ich ein Wohn-/Schlaf-Zimmer – so der Plan.

Dann entschieden wir, dass ich alleine ausziehe und die Kinder beim Papa bleiben und so zog ich nicht wie zunächst geplant ins Dorf nebenan, sondern in eine 50-qm-Wohnung am Stadtrand im Erdgeschoss, mit zwei Zimmern, 50 qm, Terrasse und eigenem Garten. Gepflegt, sehr bezahlbar und damit inklusive der finanziellen Freiheit, mit den Kindern Dinge zu unternehmen, ohne sie uns vom Kühlschrank absparen zu müssen.

Die Wohnung befindet sich in einem 6-Familienhaus, das wiederum in einer Siedlung aus etwa acht weiteren solcher Häuser besteht. Diese stehen quasi im Kreis, sind mit dem Auto nicht direkt anfahrbar und in der Mitte befindet sich ein kleiner Platz mit Grünfläche und gepflasterten Wegen, einer Schaukel, einem Holzhaus und ein paar Bänken.

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Weil die Kinder nur jedes zweite Wochenende bei mir schlafen und ansonsten ausschließlich nachmittags bei mir sind, habe ich kein Kinderzimmer eingerichtet. Stattdessen habe ich ein großes Bett gekauft und eine gute Schlafcouch, auf der ich an den besagten Wochenenden schlafe.

Für meine „Wohn-Politik“ habe ich mir den ein oder anderen Spruch reinziehen müssen und mir begegnet oft Skepsis. In den letzten Monaten habe ich häufig daran denken müssen, wie mir einmal sehr heftig mitgeteilt wurde, was derjenige von meinem „Wochenendmutter-Status“ hält und im Rahmen dessen auch der sehr wütende Vorwurf fiel: „Du hast ja nicht einmal ein Kinderzimmer!“ Das passierte zu einem Zeitpunkt, wo ich ohnehin noch völlig wund aufgrund der Trennung war und hat mich sehr verletzt. Mittlerweile kann ich darüber nur noch milde lächeln – dank meiner Kinder. Denn die zeigen ständig, dass es passt, wie es ist.

Seit zwei Jahren spielen sie regelmäßig in dieser 50-qm-Wohnung Verstecken. Seit zwei Jahren! Gerade waren sie hier mit dem Nachbarsjungen und haben Gummitwist im Wohnzimmer gespielt. Das geht, weil die Wohnung im Erdgeschoss ist und weil sie cool geschnitten ist. Nun hat es aufgehört zu regnen und die Kinder sind wieder draußen. Dort treffen sie sich seit dem Sommer regelmäßig mit zwei bis vier weiteren Kindern. Meistens zieht dazu jeder sämtliches Equipment aus der Wohnung und/oder aus den Kellern: Fahrräder, Roller, Skateboards, Hulahopp-Reifen, Rollerblades, Gummitwist, Bälle. Sie schmeißen alles zusammen und fetzen dann gemeinsam durch die Siedlung. Dabei betreiben sie geschickten Essens-Tourismus bei den verschiedenen Eltern, so dass sie immer ausreichend und überdurchschnittlich gut versorgt sind. Im Sommer gab es Tage, da sind die Kinder nach dem Aufstehen verschwunden und im Grunde nur zum Schlafen wieder reingekommen.

Es sind alle unfassbar glücklich. Die Eltern, weil die Kinder extrem gut aufgeräumt und vor allem sicher sind. Die Siedlung ist überschaubar, es fahren hier keine Autos, wir sind hier am Stadtrand und wer hier durchgeht, den kennt man. Die Kinder lieben sich und passen gegenseitig auf sich auf. Zudem sind sie nicht jederzeit unter Beobachtung, sie dürfen sich in der gesamten Siedlung frei bewegen und so erleben sie ihre kleinen Abenteuer. Ich habe mit ihnen Grenzen ausgemacht, die sie nicht überschreiten dürfen (nicht auf den Parkplatz) und sie halten sich daran. Sie lernen viel voneinander und miteinander und profitieren auf eine Art und Weise voneinander, die uns Erwachsenen völlig fremd ist. Die älteren Menschen schätzen es ebenfalls, wenn sich etwas rührt und schmunzeln sehr über die Power der Kinder.

Mittlerweile sind meine Kinder fünf und sieben und am Wochenende dürfen sie manchmal mit ihrer kleinen Gang gemeinsam zum Spielplatz, der zwei Siedlungsstraßen weiter ist. Dafür müssen die Großen auf die Kleine aufpassen. Wir haben feste Regeln für diesen Ausflug aufgestellt (niemand geht alleine, muss einer aufs Klo, gehen alle usw.) und sie lieben diese Ausflüge. Sie sind doppelt so groß, wenn sie gehen und sie wissen, dass das ein Privileg ist, das es gilt zu pflegen, um es nicht zu verlieren. Die ersten paar Male bin ich immer wieder mal gucken gegangen, ohne mich zu zeigen und es war toll zu sehen, wie diese kleinen Menschen eigenverantwortlich unterwegs sind und miteinander umgehen.

Wenn es draußen zu ungemütlich wird und auch das alte Holzhaus nicht mehr genügend Schutz bietet, rudeln sich die Kinder in irgendeiner Wohnung zusammen, auch in unserer. Sie laden gerne andere Kinder hierher ein und gehen zudem völlig natürlich mit dem Umstand um, dass sie beim Papa leben und hier nur zwei bis viermal in der Woche sind. Weil sich Besuche nun häufen, die Große ihre Ruhe für Hausaufgaben braucht und sich unser Leben und unsere Bedürfnisse in den letzten zwei Jahren verändert haben, werden sie nun doch ihr Kinderzimmer bekommen, es wird nun Zeit. Damit gebe ich meinen Kritiker nicht recht, ich reagiere einfach flexibel auf unsere Umstände, ich habe diese Wohnung auch deshalb ausgewählt, weil sie das möglich macht.

Erst vor kurzem bin ich gefragt worden, ob meine Kinder eigentlich in der Schule oder im Kindergarten gehänselt werden, weil sie beim Papa leben. Nein, das werden sie nicht. Wenn ich dieses Beispiel erzähle und mein Unverständnis darüber ausdrücke, kommt häufig der Einwand: Ja, aber Kinder können ja auch gemein sein. Ehrlich? Habe ich in dem Kontext noch nicht erlebt. Wir sind es, die gemein sind. Wir Erwachsenen. Wir drücken unseren Kindern unser beschränktes Denken auf und gehen davon aus, dass sie das weitertragen werden. Dabei sind sie es, die völlig offen und frei von jeglicher Beschränkung sind. 50 qm? Super. Spielen wir Verstecken, laden Freunde ein und bauen Höhlen.

Vor einem Jahr erzählte mir meine Große, dass sich die Eltern von XY ebenfalls getrennt hätten, da sei aber der Papa ausgezogen. Meine Kinder nehmen wahr, dass sich Paare trennen und dass dann einer auszieht. Sie denken nicht, dass das zwangsläufig der Papa sein muss. Erst vor kurzem stellte meine Große fest, dass das aber doch häufig so ist, dass die Kinder meistens bei der Mama bleiben. Was ganz erstaunlich war: Sie fragte nicht, warum das bei uns anders ist. Sie stellte die Grundsatzfrage, nämlich, warum das überhaupt so ist. Sie stellt die richtigen Fragen meiner Meinung nach. Sie hinterfragt Umstände und Normen – ungefärbt und ungefiltert, sie fragt nicht, warum wir oder im besonderen ich als Mutter falsch bin.

Als sie wissen wollte, warum Kinder nach einer Trennung häufiger bei der Mutter bleiben und nicht beim Vater, erklärte ich ihr, dass es etwas ist, das die Menschen bisher sehr häufig gemacht haben und ihr Papa und ich eben eine andere Idee gehabt haben. Was mich an dieser Situation wahnsinnig freut und meiner Meinung nach ausdrückt, wie gesund wir als Familie sind: Meine Kleine meinte im Rahmen dieses Gesprächs: „Und außerdem könnten wir ja auch bei dir leben!“.

Meine Kinder sind Wunschkinder und fühlen sich auch so – selbst nach der Trennung. Sie leben in der Gewissheit, dass beide ihrer Eltern sie lieben. Sie haben Eltern, die nicht mehr zusammen sind, aber die noch gemeinsam am Tisch sitzen können, um 60 Tage Schulferien zu wuppen, die sich Hallo sagen und vor ihnen nie ein schlechtes Wort über den anderen verlieren. Natürlich hätten meine Kinder am liebsten, dass ihre Eltern wieder zusammen wären und wir alle unter einem Dach wohnen. Das tut immer wieder einmal weh. Was sie hingegen gar nicht tangiert, dass sie bei ihrem Papa leben oder dass ich eine 50-qm-Wohnung habe.

Ich denke, wir haben als Familie etwas geschafft, das auf diesem Niveau ganz selten ist, etwas, das unsere Kinder nicht schwächt, sondern stark macht. Und auch, wenn mir unterschwellig immer und immer wieder suggeriert wird, dass ich Scham empfinden sollte, ich denke, ich bin es nicht, die das sollte. Ich schaffe es, über 50 Quadratmeter hinaus zu denken.

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13 Antworten zu 50 qm

  1. Andreas Schweizer schreibt:

    Einfach schön, ich liebe diese Familiengeschichten. Dass sich da Mensschen (Erwachsene und Kinder) respektvoll begegnen, das ist so viel Wert. Dir gelingt es auch, diese Geschichten so richtig schön und warm zu erzählen, dass ich mich als Leser schon fast zugehörig fühle.

    Dass Du Dich immer noch mit Vorwürfen Anderer herumschlägst zeigt, wie nah Dir das alles geht. Ich denke aber, dass diejenige, die mit verletzenden Sprüchen Ratschläge erteilen und richten, dass diese die kleine Minderheit sind. Mir jedenfalls sind keine solche Gedanken entsprungen, obwohl ich einen konservativ bäuerlichen Hintergrund habe.

    Mein Tipp, so ich denn einen geben dürfte wäre: vergiss die Ansprüche von Andern und lebe fröhlich mit der Umsetzung der Deinen.

    Liebe Grüsse von Deinem Schweizer-Fan
    Andreas

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Lieber Andreas,

      danke für deinen ermutigenden Kommentar. Ich arbeite schon länger daran, vieles an mir abprallen zu lassen und oft gelingt mir das auch. Manchmal eben nicht.

      Davon unabhängig schreibe ich darüber, um zu spiegeln und so vielleicht Denkmuster aufzubrechen.

      Viele liebe Grüße in die Schweiz.
      Tina

  2. Frische Brise schreibt:

    Wie schön! Das hört sich wirklich rund an für alle Beteiligten.

  3. just a thought schreibt:

    🙂 wir sind zwar sehr wenige, aber wir sind nicht alleine!

  4. kathrinrabenmutter schreibt:

    Was für ein starker Text! Toll und Danke ❤

  5. Witzig, als ich den Anfang gelesen habe, in dem Du Eure aktuelle Wohnungssituation beschrieben hast, dachte ich : Das is ja mal cool. Für die Kinder muss das ja schön sein. Über das, was Du von der Reaktion der Anderen schriebst, kann ich nur den Kopf schütteln. Aber das ist wieder so typisch deutsch. Nicht sehen, was gut für die Betroffenen ist, sondern urteilen, ob normal oder nicht. Lass Dich davon nicht zum Zweifeln bringen, sondern freue Dich, dass Ihr die perfekte Lösung für Euch gefunden habt, und genießt es einfach.

  6. Martina schreibt:

    Ich finde es gut dass Du und Dein Ex partner es so gut hinbekommen tut. Ich bin vor drei Jahren ausgezogen und habe meine Kinder bei ihrem Vater gelassen aus unterschiedlichen Gründen. Unter anderem dachte ich dass ich es besser hinbekommen würde als er. Doch ich habe mich geirrt. Ich lebe mit einem Partner zusammen und mein Ex mann lässt es nicht zu dass sie zu uns kommen. Er arbeitet im Schichtdienst und ich Vollzeit damit ich Unterhalt zahlen kann. Kümmer mich aber auch ca. 30 bis 40 % im alten Haushalt dort wo meine Kinder leben damit ich auch etwas mitbekomme von ihnen.
    Deshalb finde ich es gut dass ihr es so gelöst habt und es auch hinbekommt. Wichtig ist dass es den Kindern gut geht. Es ist nicht leicht aber man sollte das Gerede der Leute ignorieren.

  7. jenniontheblock schreibt:

    Schön geschrieben. Bezüglich des fehlenden Kinderzimmers und der 50 qm könnte man auch sagen, dass deine Kinder eine Spielzeugfreie Wohnung haben. Über Spielzeugfreie Kinderzimmer zermartern sich ja schon andere die Köpfe. Viele Stellen fest, dass die Kinder besser und mehr draußen spielen. So wie bei Euch. Was man immer wieder fragen muss: wer sagt, dass es so sein muss? Wo steht das? Warum steht das da? Antwort ungenügend? Weitergehen und eigenen Weg bestreiten.

  8. Polly Esther schreibt:

    Meine Eltern sind ebenfalls getrennt und wir 3 Kinder blieben bei unserem Vater. Unsere Eltern haben sich in aller Freundschaft getrennt und auch üver 10 jahre nach der Scheidung noch ein sehr gutes Verhältnis. Unser Familienleben war nie schöner, als Paar haben sie sich viel zu viel gestritten.
    Meine Mutter hat aber auch lange darunter gelitten, dass es „falsch“ ist die Kinder zurück zu lassen. Wobei das für uns alle in der Situation absolut das Beste war. Ich bin froh, dass es noch ein paar wenige Elternpaare gibt, die in der Lage sind, sich wirklich zum Wohl des Kindes zuverhalten. das ist leider eine absolute Seltenheit.

  9. muschelfinderin schreibt:

    Wunderbares Posting.
    Ich konnte es ähnlich halten … meine mittlerweile erwachsene Tochter ist darüber zutiefst glücklich, dass es einfach ohne Streit und Eifersüchteleien abgegangen ist. Wir sind zu einer großen Patchworkfamilie herangewachsen, in der Freundschaft und Akzeptanz an erster Stelle stehen.

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