Loyalität

„Das Kind will dich nicht sehen!“

Meine Mutter und ich saßen im halbdunklem Wohnzimmer auf der beigefarbenen Eckcouch. Die Szene ist über 33 Jahre her und doch erinnere ich mich an viele Details, an den Grundriss der Wohnung, mein Kinderzimmer, das Puppenhaus darin, an das Wohnzimmer, die Couch und deren Stoff. Ich sehe sie da sitzen auf dem langen Teil der – heute würde man sagen: Wohnlandschaft – ich auf dem kurzen Teil. Ich weiß nicht, warum sie mit meinem Vater telefonierte und nicht ich selbst, ich vermute, er rief an, sie fragte mich kurz, ob ich ihn sehen will und dann schmetterte sie diesen Satz verächtlich ins Telefon. Sie klang kalt und ich selbst kannte sie so nicht. Die beiden hatten sich getrennt als ich zwei war und ich erfuhr erst vier Jahre später von ihm. „Dein Vater kommt dich besuchen“, sagte da meine Pflegemutter und ich rief erfreut: „Rainer!“ und sie sagte: „Nein, dein Vater“. Wie sich herausstellte, war mein biologischer Vater Jürgen und nicht Rainer.

„Das Kind will dich nicht sehen!“ – das war extrem frei interpretiert. Ich war sechs Jahre alt und hatte schon erstaunlich viel erlebt in meinem kurzen Leben. Vor dieser kleinen Szene war ich über neun Monate in einer Pflegefamilie untergebracht und nun – nach ihrem wiederholtem erfolgreichen (hier bitteres Lachen einfügen) Entzug – zu meiner Mutter zurückgekehrt.

Als mein Vater also anrief, sagte ich tatsächlich, dass ich kein Treffen möchte, momentan nicht. Ich musste doch aufpassen, dass meine Mutter nicht wieder trank und das konnte ich ja wohl schlecht, wenn ich weg war. Sie machte das ihre daraus und nutze es, um ihm einen reinzuwürgen. Mein Vater meldete sich zehn Jahre lang nicht mehr bei mir, das war nun wirklich nicht das, war ich unter „im Moment nicht“ verstand, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Ich habe mir das lange vorgeworfen, wie wäre alles geworden, wenn ich in diesem Moment nicht nein gesagt hätte?! Heute weiß ich: Ich war sechs Jahre alt und nicht für meine Eltern und ihr Verhalten verantwortlich. Weder dafür, dass meine Mutter nicht mehr trank, noch dass sie damit klar käme, wenn ich meinen Vater sehe und umgekehrt. Tatsächlich befand ich mich aber in einem riesigen Loyalitätskonflikt, der mich zukünftig noch häufig begleiteten würde.

Die Rückkehr zu meiner Mutter dauerte nur zwei Monate, dann holte mich die Polizei wegen akuter Kindeswohlgefährdung aus der Wohnung und ich weiß wie heute, wie ich zu der Polizeibeamtin sagte, ich könne noch nicht gehen, ich hätte die Hausaufgaben noch nicht fertig. Interessant ist, dass ich das von zwei Seiten betrachten kann. Mein Ich sieht das alles recht sachlich, das ist passiert, das gehört zu mir, so war das einfach. So habe ich überlebt. Aber wenn ich mir all das als Mutter gebe, wenn ich mir vorstelle, … dann zerreißt es mich fast.

Ich hatte Glück und konnte übergangslos und ohne Heimaufenthalt zurück zu meiner Pflegefamilie, in der ich fortan aufwuchs und blieb, bis ich als erwachsene junge Frau auszog. Meine Mutter sah ich, wenn überhaupt, an einem Samstag im Monat.

An diesen Tagen gingen wir schwimmen, Eis laufen und was mir noch so einfiel und was mit Bus und Bahn erreichbar war, oft hingen wir aber auch einfach nur in ihrer Wohnung rum und ich spielte stundenlang mit ihren Sachen, zog ihre Kleider und Mäntel an und tobte mich an ihrer Kosmetik aus.

Abends kehrte ich aufgekratzt und voller widersprüchlicher Gefühle heim. Ich liebte und vermisste sie, gleichzeitig traute ich ihr keinen Meter. Roch sie vielleicht nach Alkohol? Was hatte sie da in ihrer Handtasche? War das wirklich Limo, was sie da trank? Wie oft probierte ich ihr Getränk, wenn sie nicht hinsah. Erzählen konnte ich von all dem nichts in meinem Zuhause. Nicht, weil dort über sie geschimpft wurde. Nein, das muss ich meiner Pflegemutter anrechnen, das hat sie gut geschafft und es war mit Sicherheit nicht sonderlich leicht. Und doch, einig waren sie sich nicht, was auch kein Wunder war. Meine Mutter verstand es, diese seltenen Samstage schillernd zu gestalten und in mir eine Sehnsucht zu wecken, die niemals hätte erfüllt werden können. Und hin und wieder setzte sie mir Flausen in den Kopf und meine Pflegemutter musste mich dann wieder einnorden. Ob das immer gerechtfertigt war oder ob da noch andere Dinge mitschwangen, ich weiß es nicht. Ich erkenne ihre Leistung hoch an, und dennoch, wurde es in irgendeiner Form kritisch, hatte ich ein Loyalitätsproblem.

Wer hatte nun recht? Wer sagte die Wahrheit? Die Frage stellte sich nicht, auf wessen Seite ich stand, im Zweifel immer für die leibliche Mutter, so will es das Gesetz, aber dort lebte ich nicht. Vieles wollte ich auch nicht wahrhaben, über einiges musste mich meine Pflegemutter vielleicht sogar aufklären. Und dennoch, ich wollte das nicht hören und war es noch so sachlich verpackt. Mein kindliches Ich war in großer Not. Ich liebte meine Mutter, trotz allem. Und gleichzeitig war ich dankbar um meine Pflegefamilie​, in der ich sicher aufwachsen durfte.

Als ich dreißig war, nahm ich Kontakt zu meinem Vater auf. Schnell stellte ich die Regel auf, dass meine Mutter kein Thema sein dürfte, besonders dürfe nicht über sie gehetzt werden. Diese Regel musste ich aufstellen, denn schon in den ersten Minuten unseres ersten Telefongesprächs nach über 24 Jahren wurde klar, dass mein Vater diese Regel brauchte. Und obwohl er diese scheinbar akzeptierte, schaffte er es nicht, sie einzuhalten. Immer wieder ließ er ganz beiläufig kleine Spitzen in Nebensätzen fallen, um sie dann, wenn ich ihn darauf hinwies, zurückzunehmen mit den Worten: “ Entschuldigung, du hast ja recht, aber so war das eben.“

Ich war 30 Jahre alt und dennoch das Kind in diesem wundersamen Familientheater. Mich machte sein Verhalten aggressiv und wütend und ich lehnte ihn dafür ab. Er instrumentalisierte mich und er erhob sich über meine Mutter, ohne Gefühl dafür, dass er kein Stück besser war. Versagt hatten beide, wieso war es bei ihm nicht schlimm, dass ich in einer Pflegefamilie aufwachsen musste und bei meiner Mutter schon? Wieso wurde hier mit zweierlei Maß gemessen? Aber ich schweife ab. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter hatte und sie sich wirklich einiges geleistet hatte – unter anderem einen erfundenen bevorstehenden sehr bald eintretenden Krebstod – mein von ihr getrenntes sechsjähriges inneres Kind war loyal.

Nach vielen Telefonaten kam es dennoch zu einem ersten Treffen zwischen meinem Vater und mir. So reiste ich 730 km zu ihm und übernachtete im Hotel, nicht bei meinen Pflegeeltern. Ich schaffte es einfach nicht, ich musste diese zwei Familien trennen. Verständlicherweise hätten meine Pflegeeltern Fragen gestellt und jeden noch so kritischen Zwischenton hätte ich wahrgenommen oder gemeint, wahrzunehmen und dann wäre ich scharf geworden in meinem Ton und dann hätte eines zum nächsten geführt und so weiter und so fort. Loyalitätskonflikt galore.

Man könnte jetzt meinen, ich sei ein wenig dumm und naiv und meine Eltern hätten diese Loyalität nicht verdient und letzterem gebe ich auch Recht, allem anderen widerspreche ich vehement. Ich schreibe das alles deshalb auf, weil ich deutlich machen will, wie diese Mechanismen in einer kleinen Kinderpsyche wirken und dass Kinder gar nicht anders können, als ihre Eltern zu lieben, selbst wenn sie ihnen grausamstes antun.

Wie schlimm muss es dann erst sein, wenn „grausam“ ausbleibt und sich die Eltern im Rahmen von einfachen Streitigkeiten – mit oder ohne Trennung – gegenseitig beschimpfen und versuchen, das Kind auf seine Seite zu ziehen.

Das Thema ploppte bei mir auf, weil meine große Tochter (8) mich vor zwei Wochen unvermittelt und erstmalig fragte: „Das darf ich dem Papa jetzt aber nicht erzählen, oder?“ Ich schaute sie erstaunt an. Noch nie hatte ich so etwas von ihr verlangt – weder als wir noch alle zusammen wohnten noch nach der Trennung. Ich wandte mich ihr ganz zu und sagte: „Du darfst dem Papa alles erzählen, es wird nie passieren, dass ich dich oder deine kleine Schwester bitte, dem Papa etwas zu verschweigen. Wenn ich nicht möchte, dass er etwas nicht weiß, dann behalte ich das einfach für mich.“

Denn nun bin ich nicht mehr das Kind, ich bin erwachsen. Ich bin nun verantwortlich für drei Kinder – für meine zwei Töchter wie auch für mein inneres Kind. Und niemanden von den dreien werde ich noch einmal irgendeinem Loyalitätskonflikt aussetzen.

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5 Antworten zu Loyalität

  1. Katha schreibt:

    Wow. Danke für deine Offenheit!
    Toll, dass du so reflektiert bist, das ist viel wert, war aber sicher harte Arbeit.

    Liebe Grüße, Katha

  2. Kathi schreibt:

    Vielleicht klingt das jetzt total verrückt, aber ich habe oft deine Geschichte im Kopf, wenn ich genervt von den Kindern bin und bemühe mich dann gleich deutlich mehr. Insofern danke für deine Offenheit!

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Danke für deine Rückmeldung, man weiß ja nie, wie die eigenen Texte wirken. Umso schöner, wenn sie es dann tatsächlich tun. Und schau, wenn du daraus etwas positives ziehen kannst, dann hat alles irgendwie einen Wert.

  3. Christina schreibt:

    Du schreibst mir aus der Seele. Same here – Loyalitätskonflikt in der Kindheit, jetzt zwei Kinder, acht und vier, der Vater hat sich einiges geleistet und mich verlassen. Und n i e m a l s werde ich meine Kinder das antun, dass sie ihren Vater nicht mehr lieben dürfen, auch wenn er für mich der letzte Mensch auf Erden ist. Das Zusammenreißen kostet bisweilen Kraft, ja. Aber es muss sein.

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Schlussendlich bin ich auch davon überzeugt, dass es insgesamt viel Frieden schafft. Verletzt ist man so oder so, auch wenn man sich hinreißen lassen würde. Aber dann wird es eben auch hässlich, in einem selbst und die Kinder leiden.

      Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft. Liebe Grüße

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