Emotionales Déjà-vu

Gestern lag ich noch lange wach und konnte nicht einschlafen. Ich weiß gar nicht, was zuerst da war, die Unfähigkeit, einzuschlafen oder die emotionale Zeitschleife, in der ich plötzlich feststeckte.

Vor ziemlich genau einem Jahr ist mein leiblicher Vater gestorben.  Ich schreibe bewusst, leiblicher Vater, denn mehr war er leider nicht, so traurig es ist.

Einige Dinge von letztem Jahr laufen mir immer wieder nach. Es war eine unschöne Zeit, in der mein Onkel – sein Bruder – sich zurücklehnte und sich darauf berief, dass ich als einzige Tochter bestattungspflichtig sei. Nachdem ich das Erbe abgelehnt habe, ließ ich mich noch bitterböse vom Vermieter meines verstorbenen Vaters anschreien und bedrohen. Mein Onkel log und betrog und versuchte zu manipulieren, in der Hoffnung, jaaaa, in der Hoffnung von was eigentlich? Es war eine Zeit, in der ich in eine Welt blickte, in der ich beinahe aufgewachsen wäre und im Nachhinein froh darum sein kann, es nicht gemusst zu haben. Auch wenn das mit dem Verlust einherging, beide leiblichen Eltern verloren zu haben.

Doch es gibt da einen ganz bestimmten Aspekt, der mir zu schaffen macht und ich weiß bis heute nicht, wie ich das verarbeiten soll.

Im Grunde hatte ich mit meinem Vater nur Kontakt, als ich 30 Jahre alt war. Und der war so anstrengend, so erschöpfend, so Energie raubend, dass ich ihn auslaufen lassen musste. Als ich Kind war, war er nicht da, später sowieso nicht, meine Kinder hat er nie kennengelernt, er wusste nicht einmal, dass ich zwei Kinder habe. Ich habe unsere Beziehung ausführlich beschrieben, als ich festhielt, warum ich ihn auf seinem Sterbeweg nicht begleiten würde und ich möchte das nicht nochmals alles aufführen, weil ich auch nicht darauf rumreiten möchte. Dennoch ist es wichtig, hier zu verstehen, dass zwischen uns nichts war. Gar nichts. Er war ein Fremder für mich.

Als ich die Nachricht von meinem Onkel erhielt (per E-Mail), dass mein Vater verstorben ist, da rief ich bei der Klinik an, um mir das bestätigen zu lassen. Das mag jetzt hart klingen, aber ich habe schon Geschichten hinter mir, das kann man sich gar nicht ausdenken. Ich wurde auf die Station verbunden und jetzt kommt’s: Da kannte man mich. Ich höre bis heute den Satz in meinen Ohren: „Warten Sie einen Moment, ich habe einen Zettel für Sie hier – von ihrem Vater.“

So.

Wer hier regelmäßig liest, weiß, dass ich grundsätzlich recht pari mit meiner Geschichte und mit meinen Eltern bin bzw. war. Ich habe hart an mir und meiner Geschichte gearbeitet und auf diesem Weg bin ich auch zu der Meinung gekommen, dass meine Eltern Menschen sind/waren, die große Schwierigkeiten in ihrem Leben hatten und ich dabei nun einmal „einfach“ keinen Platz hatte.

Aber! Ich dachte, wenn der Tag X gekommen ist, dann würden sie zurückblicken und so eine Art Reue empfinden. Oder sagen wir besser, ein Bewusstsein dafür entwickelt haben, dass das nicht ganz optimal gelaufen ist, dieser Elternpart. Und irgendwie dachte ich wohl auch, dass mich das erreichen würde. Keine Entschuldigung, aber eben diese Erkenntnis.

Als die Schwester nun also sagte, da sei ein Zettel für mich, waren die Erwartungen entsprechend groß. „Hier steht,“ setzte sie an, „sie sollen sich an das Sozialamt Herne wenden wegen der Beerdigung. Damit diese sie eventuell unterstützen, falls Sie darauf Anspruch haben.“

Bämm. Damit hatte ich nicht gerechnet. So gar nicht. Er hatte ein Jahr Zeit. Er wusste ein Jahr lang, dass er diesen Kampf nicht gewinnen würde. Und dann erhalte ich so einen – rein administrativ geprägten – Zettel? Kein Gruß, kein nichts? Einhergehend mit dieser Unverschämtheit, davon auszugehen, dass die Tochter, um die er sich nie kümmerte, schon alles regeln wird?

Wie naiv ich war. Ich hatte mir das nicht einmal vorstellen können, dass da einfach rein gar nichts ist. Kein Respekt, keine Empathie dem eigenen Kind gegenüber – nichts. Nicht einmal im Moment des Sterbens. Das überstieg tatsächlich meine Vorstellungskraft. Es ist eine Enttäuschung, die tief sitzt und es wird wohl noch eine Zeit lang dauern, bis ich das in eine Ecke meiner emotionalen Vitrine packen kann, die nicht ganz so präsent ist.

Viele Menschen in meiner Umgebung hadern mit ihren Eltern. Von einigen weiß ich, dass auch sie die Hoffnung haben, dass eines Tages die Erkenntnis kommt, ein Umdenken, eine Umkehr.

Ich weiß nun, es besteht die Möglichkeit, dass diese Hoffnung nicht erfüllt wird – nicht bei Eltern, die noch nie auch nur eine Andeutung von Selbstreflexion gezeigt haben. Ich glaube, es gibt Menschen, da muss man einfach akzeptieren, dass sie einem nicht geben werden, was man braucht und möchte.

Ein Großteil der Menschen fällt jedoch nicht in diese Kategorie. Und wenn ich eines gelernt habe in den letzten Jahren: Die Wahrscheinlichkeit, zu bekommen, was man möchte, steigt immens, wenn man anfängt, nicht nur Erwartungen zu haben, sondern diese auch zu äußern. Das gilt auch umgekehrt: Nein sagen, wenn einem etwas nicht gefällt, wenn die eigenen Grenzen überschritten werden.

Das Leben ist sehr kurz. In den letzen Jahren habe ich gelernt, dass es absolut wichtig ist, dass ich mich auf mich selbst verlassen kann. Ich muss auf mich aufpassen. Es ist schön, wenn man liebe Menschen um sich herum hat, die einen dabei unterstützen. Gleichzeitig habe ich für mich begriffen, dass ich absolut allein für mich verantwortlich bin. Dazu gehört, zu äußern, was ich will und was nicht. Und dazu gehört auch, zu erkennen, welch ungeäußerten und unerfüllten Erwartungen in mir schlummern. Ein hohes Ziel – und dennoch absolut lohnenswert.

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Berg und Tal – Sonne und Wolken – wie im echten Leben.

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8 Antworten zu Emotionales Déjà-vu

  1. Kai schreibt:

    Die Verantwortung für sich selbst übernehmen… das ist wohl dieses erwachsen sein. Und die Erkenntnis, dass andere für sich verantwortlich sind und wir sie nicht ändern können (oder nur begrenzt).
    Danke für Deinen Text und Deine Offenheit.

  2. Andreas Schweizer schreibt:

    Aaaach Tina
    Deine Texte sind anspruchsvoll für mich, wunderbar formulierte Gedanken, so prezise beobachtet und formuliert und sehr, sehr traurig in der Sache.

    Ich bewundere Dich, echt. Wie Du all diese Erlebnisse einordnest, Dich nicht in Selbstmitleid versinken lässt, das ist wirklich sehr sehr stark. Mir scheint, dass Du mit schier unmenschlicher Kraft Dein Leben bewältigst und für Deine Töchter wohl die wunderbarste Mama bist, die man sich wünschen kann. Ich wünsche Dir von Herzen Glück, tief drin und glückliche Wendungen für Dein Leben. Du bist eine ganz ganz grosse und starke Frau.

    Liebe Grüsse
    Andreas

  3. Ella schreibt:

    Keine Frage, dass diese letzte Botschaft extrem enttäuschend ist. Aber kann er nicht auch gedacht haben „Meine Tochter wird sich kümmern müssen, das ist rechtlich so. Ich zeige ihr wenigstens noch einen kleinen Weg auf, wie es für sie finanziell vielleicht nicht ganz so schlimm ist“

    • vomwerdenzumsein schreibt:

      Hallo Ella,
      niemand weiß, was er sich wirklich dabei gedacht hat. Ich für mich kann dem nichts Positives abgewinnen, zumal mir mein Onkel diese Information zusätzlich nochmals mitteilte, es war also redundant. Was mich interessiert: Warum stellst du mir diese Frage, ob es nicht auch so gewesen sein könnte?
      Viele Grüße
      Tina

  4. Kathi schreibt:

    Wahnsinn Tina… Ich fließe so oft vor Muttergefühlen über, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man so wenig/nichts gegenüber seinem Kind fühlen kann. Umso bemerkenswerter wie reflektiert du bist und wie viel Gefühl du bei deinen Kindern zeigst / wie sehr du sie im Fokus hast

  5. Anna schreibt:

    Dein Text hat mich gerade unerwartet sehr berührt. Weil er diese unendliche Hoffnung beschreibt.
    Meine Eltern leben noch und ich habe mir lange gewünscht, dass sie sterben, damit ich anschließen kann.
    Nach der Geburt meines zweiten Kindes dämmerte mir, dass ich weiterhin verletzt und enttäuscht werden werde. Sie werden sich nicht ändern. Die Erwartungen fahren zu lassen, sich selbst beeltern, das ist so schwierig und gleichzeitig befreiend.
    Ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute!

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